Vor 125 Jahren begann die Französin an ihren «Claudine»-Romanen zu schreiben. Sie schöpfte aus dem Vollen, im Leben wie in der Kunst, und ist noch immer eine Inspirationsquelle.
Urs Bühler
Die einen ächteten, die anderen achteten sie – das zeigte sich auch kurz nach dem Tod: Als Colette 1954 mit 81 Jahren in Paris starb, verweigerte der dortige Erzbischof ihr wegen ihres unziemlichen Lebenswandels eine religiöse Zeremonie. Frankreich aber liess ihr als erster Frau überhaupt ein Staatsbegräbnis zuteil werden, und Tausende gaben ihr das letzte Geleit.
Zu Lebzeiten verstand sich diese Künstlerin auf Provokation wie am anderen Ende des Jahrhunderts unter ganz anderen Vorzeichen ein Pop-Gesamtkunstwerk namens Madonna. Sidonie-Gabrielle Claudine Colette wusste die Phantasie von Männern wie Frauen zu beflügeln, und bis heute inspiriert sie Leute wie ihren Landsmann Frédéric Beigbeder. Der Autor und Filmemacher outet sich in Interviews als ihr Bewunderer und preist sie als Vorreiterin, die feministische Anliegen noch spielend mit Sinnlichkeit zu verbinden gewusst habe.
Die Entfesselungskünstlerin
Eine praktizierende Frauenrechtlerin war Colette nicht, aber sie übte sich als polyamouröse Freidenkerin im selbstbestimmten Leben. So wurde sie zur Entfesselungskünstlerin in der heute gern verklärten Belle Époque, deren Frauen noch in ein viel engeres Korsett gesellschaftlicher Vorstellungen gezwängt waren. Männerkleider durften sie nicht tragen, nicht einmal lange Hosen, und unter ihrem Namen Bücher zu schreiben, schickte sich nicht.
Nun, Colette standen nach eigenem Bekunden allgemeine Ideen so wenig wie baumelnde Ohrringe. Sie schnitt sich den Zopf ab, setzte als Nackttänzerin ihre Reize ebenso ein wie als Autorin ihren scharfen Verstand, hatte Affären mit Angehörigen des anderen wie des gleichen Geschlechts und schrieb auch ziemlich unverblümt über die Sexualität.
Den Anfang nahm das Ganze mit der frechen Kunstfigur Claudine, an deren stark autobiografisch genährten Vita sie 1896 zu schreiben begann. Ihr Alter Ego, das sie als Vorreiterin des Genres der Autofiktion schuf, übte einen starken Einfluss auf heranwachsende Zeitgenossinnen aus. Er ist gar schon mit der Wirkung von Goethes «Werther» auf junge Männer verglichen worden, nur steht Claudine als Identifikationsfigur weniger für Liebesleid denn für Lebenslust in allen möglichen Formen.
Stoff für Filme
Colettes Œuvre sollte auch die anderen Kunstgattungen inspirieren und lieferte etwa Stoff für über ein Dutzend Leinwandadaptionen. Die ersten stammen noch aus der Stummfilmzeit, die bis anhin letzte steuert 2009 Stephen Frears mit seiner Adaption von «Chéri» bei, mit dem sie 89 Jahre zuvor den Pariser Kurtisanen ein Denkmal gesetzt hat. Zwei Spielfilme sind zudem Colettes Vita gewidmet: 1991 Danny Hustons «Becoming Colette» mit Mathilda May in der Titelrolle und zuletzt 2018 von Wash Westmorelands «Colette» , in dem Keira Knightley als Hauptfigur eine ihrer stärkeren Leistungen zeigt.
Nachgestellt wird in «Colette» etwa der skandalumwitterte Auftritt im «Moulin Rouge», bei dem die Protagonistin als quicklebendige Mumie aus einem ägyptischen Sarkophag steigt und ihre androgyne Geliebte Missy leidenschaftlich küsst. Das vorwiegend männliche Publikum gerät derart in Wallung über diese Demonstration gleichgeschlechtlicher Liebe, dass der Polizeipräfekt alle weiteren Aufführungen verbieten wird.
Westmoreland fokussiert seinen als Emanzipationsgeschichte konzipierten Plot stark auf Colettes Beziehung zu ihrem ersten Gatten Willy (Klaus Maria Brandauer) und streift nur eine Lebensphase. Die folgende Stufe findet man in Colettes Roman «La Vagabonde» nachgezeichnet, samt kritischen Anmerkungen zur Institution Ehe.
Einen Überblick über ihr ganzes Leben aber liefert im Zeitraffer von knapp einer Stunde die neue Arte-Dokumentation «Colette, die Aufständische» von Cécile Denjean. Es ist keine dieser Netflix-Biografien, die nach den Prinzipien des Storytelling einem Leben ein süffiges Leitmotiv aufzuzwingen versuchen. Die sorgfältig aufbereitete Collage operiert mangels vorzeigbarem Archivmaterial der Hauptfigur – es gibt beispielsweise nur eine einzige Tonaufnahme – oft mit Schwarz-Weiss-Schnipseln, nachgedrehten Szenen und Illustrationen. Das tut der Faszination, die dieser Vita innewohnt, keinen Abbruch.
Sie beschliesst zu leben
1873 wird Colette im Burgund geboren, wo sie nach eigenem Bekunden wohlbehütet aufwächst, «auf dem Land zwischen Bäumen und Büchern». Der Ernst des Daseins holt sie ein, als ihr Vater die Familie in den Ruin führt. «Im Leben junger Menschen gibt es immer Momente, in denen ihnen Sterben genauso verlockend und normal erscheint wie Leben», wird sie später schreiben. Sie beschliesst zu leben – und wie!
Als sechzehnjähriges Landei ohne Mitgift trifft sie bei einem Paris-Aufenthalt den vierzehn Jahre älteren Literaten und Partylöwen Henry Gauthier-Villars, bekannt unter dem Pseudonym Willy. Er führt sie in die feinere Gesellschaft ein, mit zwanzig zieht sie zu ihm und wird seine Frau. Bald taucht sie in die Halbwelt ein, umgeben von Kurtisanen und weniger edlen Prostituierten, lernt Kreise um Paul Valéry und Claude Debussy kennen, verkehrt in lesbischen Zirkeln, die bei reichen, einflussreichen Pariserinnen en vogue sind.
Mehr aus Experimentierfreude als mit Ambitionen beginnt sie, Erinnerungen an ihre Mädchenjahre zu notieren. Sie tut es auf Anregung ihres Gatten, der die daraus entstehende «Claudine»-Reihe dann jahrelang unter seinem eigenen Pseudonym publiziert. Die in der Ich-Form verfassten Romane, von viel Gespür für die Darstellung von Details und Empfindungen getragen, schlagen ein. Von Band eins, «Claudine à l’ École», werden innert eines Monats 40000 Exemplare verkauft.
Späte Anerkennung
Bald hat Colette es satt, von ihrem Mann betrogen und ausgenutzt zu werden. Sie trennt sich zumindest privat von ihm, ihre Werke werden inzwischen mit «Colette» statt mit «Willy» signiert; allerdings gelingt es ihm, sich die Autorenrechte auch nach der Scheidung zu sichern.
Zwischendurch feiert sie Bühnenerfolge, europaweit etwa mit einer freizügigen Pantomime-Solo-Show, und später wendet sie sich wieder dem Schreiben zu, wird auch journalistisch tätig. Sie will ihr Leben damit etwas erden, doch sie bleibt eine Frau, die in keine Schublade passt. Mit vierzig schlüpft sie auch noch in die Mutterrolle, einige Jahre später nimmt sie ihren sechzehnjährigen Stiefsohn zum Liebhaber, mit knapp sechzig nutzt sie ihren zur Marke gewordenen Namen zur Gründung eines Schönheitssalons.
Und in ihrer letzten Lebensphase erhält sie die breite Anerkennung, die in ihren Anfängen noch undenkbar gewesen ist: Sie wird gefeiert als Grande Dame der französischen Literatur der ersten Jahrhunderthälfte und mit Ehrungen fast schon überhäuft. Nur die katholische Kirche wird ihr die letzte Würdigung versagen.
«Colette – die Aufständische» ist in der Arte-Mediathek frei verfügbar.
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